aus dem Vortrag von Gabriele Stangel

Genauso falsch wie die Unterstellung, Identitätsbildung würde im wesentlichen durch die Kenntnis der biologischen Abstammung entstehen, ist die Pathologisierung und Stigmatisierung der Frau, die sich für eine anonyme Geburt entscheidet beziehungsweise ihr Kind zur Adoption frei gibt.

Frau Gabriele Stangel, Pastorin am Krankenhaus Waldfrieden, hat im Jahr 2000 die erste Babyklappe in Berlin gestartet und seitdem viele persönliche Erfahrungen damit gemacht. Inzwischen gibt es fünf derartige Einrichtungen in Berlin.

Bei einer Veranstaltung der Schwangerenberatungsstelle "Balance" zum Thema Babyklappen am 22. Februar 2006, konnten wir ihren Beitrag aufzeichnen:

"Ich finde, dass Frauen, die ihr Kind abgeben zur Adoption, sehr verantwortungsbewußte Frauen sind, wenn sie sagen, sie können es selber nicht. Ich ziehe den Hut vor solchen Frauen. Ich könnte kein Kind abgeben, dass ich neun Monate in meinem Leib trage, könnte ich nicht, ich persönlich nicht, aber diese Frauen sagen: "Das Kind hat es nicht gut bei mir." Das ist eine reife, sehr verantwortungsvolle Entscheidung, die sie treffen, die ich nur unterstützen kann."

Plastisch schildert Frau Stangel auch eine ganz andere Bewertung von Adoption aus der Sicht eines angenommenen Kindes als eben eines "Wunschkindes":

"Wir haben selber ein Findelkind in der Familie - eine meiner Schwestern hat ein Findelkind adoptiert. Die ist jetzt dreißig, wir wissen, was aus der geworden ist: es ist eine sehr stabile Persönlichkeit, gesund und glücklich, wußte immer, dass sie ein Findelkind ist und ich muss sagen, es gibt eben auch diese Fälle. Es kommt immer darauf an, wie man mit diesen Kindern umgeht, dass man ihnen auch die Wahrheit sagt, das ist eins der wichtigsten Kriterien, dass sie die Umstände ihrer Geburt kennen. Das ist also jetzt 30 Jahre her, da ist man in Österreich noch anders mit der Adoptionen umgegangen als heute. Heute redet man sehr offen darüber - damals war das immer noch komisch. Aber meine Schwester hat da wirklich was Gutes gemacht - das Kind konnte schneller "adoptiert" sprechen, als andere Kinder "Staubsauger" und sie wußte auch, sie ist mit einem guten Selbstbewußtsein herangewachsen.

Als sie im Film einmal eine Sendung über Adoptionen sah, sagte sie nachher: "Habt Ihr Glück gehabt, Mama, mit mir! Den Günther," - ihr Bruder, der 9 Monate später geboren wurde - meine Schwester und Schwager waren nachweislich unfruchtbar - die war bereits 6 Wochen schwanger zu dem Zeitpunkt oder 3 Wochen und hat es nicht gewußt - "den Günther mußtet ihr so nehmen, wie er kam aber mich habt ihr ausgesucht, weil ich so schön war." Da war sie so ein kleiner Pimpf, 4 oder 5 Jahre alt. "Ihr habt mich ausgesucht, ich war Euer Wunschkind. Ihr habt mich gesehen und ihr wart so verliebt in mich!"

Läßt man den Gedanken einer Entkoppelung von leiblich/biologischer Entstehung eines Kindes und der Definition von Elternschaft einmal zu, wie es dieses Kind ganz selbstbewußt für sich in Anspruch nimmt, kommt man an den Kern von Biologismus, Rassismus und vielfältiger Diskriminierung in der Gesellschaft. Dazu Frau Künning:

"In der seit Jahren andauernden Diskussion um die anonyme Geburt, beobachte ich eine unterschwellige Fremdfeindlichkeit, die sich als Besorgnis um die anonym geborenen Kinder tarnt. Ja, wie Sie sicher auch selber schon gelesen haben, wer die Fach- und Zeitschriftenartikel von Gegner und Gegnerinnen der anonyme Geburt aufmerksam liest, wird sehen, wie oft davon die Rede ist, aufgrund ihres Nicht-wissens um ihre Herkunft zu Psychiatriepatienten werden. Kinder, die keine Identität entwickeln können, Kinder, die wie Kasper Hauser sind, also entwicklungs- und kommunikationsgestört.

Dies alles, weil sie fremd sind, weil niemand weiß, wer ihre biologischen Eltern sind und wie ihre genetische Ausstattung beschaffen ist. All diese Zuschreibungen implizieren, dass ein anonym geborenes Kind kein Potential zur Entwicklung seiner Persönlichkeit hat, sondern dass es sich und der Gesellschaft fremd bleibt und Sorgen und Kosten verursacht.

Zwar treffen nicht alle adoptierten Kinder auf so viele Verurteile und Stigmatisierung, doch bei denen, die es besonders trifft, ist es nicht verwunderlich, dass sie glauben, ihr Leid sei durch die Adoption verursacht und dass alles besser würde, wenn sie ihre biologische Eltern fänden."

Sylvia Zeller: Ja, wir haben schon mal darüber geredet, das ist so, wie eine Pflanze, die keine Wurzeln hat… - das ist wiederum ein biologisches Bild: man braucht seine Wurzeln, sonst kann man nicht fest im Boden stehen.

"Ja, genau."


Gesendet am 09.03.2006 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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