1. In den Entscheidungsgremien von ai ist seit längerem umstritten, ob und inwieweit psychiatrische Zwangsbehandlung zu den Gewaltausübungen gehört, die ai ihren zentralen menschenrechtlichen Zielen, Urteilskriterien und Verfahren gemäss, öffentlich skandalisieren müsste.
2. Die hauptsächlichen Vorbehalte, psychiatrische Zwangsbehandlung als menschenrechtswidrig zu entdecken, öffentlich auf- und anzugreifen, sind folgende: psychiatrische Zwangsbehandlung passe nicht exakt zum menschenrechtlichen value frame of reference von ai (a.); psychiatrische Zwangsbehandlung sei mehrfach ambivalent (b.); psychiatrische Zwangsbehandlung stelle ein Fass ohne Boden dar, sie überfordere konsequenterweise ai mit einer nicht mehr tragbaren Last (c.). Diese Einwände oder Bündel von Einwänden werden im folgenden punktuell apostrophiert. Danach wird ein Schluss gezogen, der der Menschenrechtslogik von ai zu entsprechen sucht (3.).
a) Zwangsbehandlung und Menschenrechte.
Psychiatrische Zwangsbehandlung verletzt essentielle Erfordernisse des Menschen.
- Psychiatrische Zwangsbehandlung widerspricht dem Menschenrecht, das allen
anderen zugrunde - bzw. vorausliegt: dem Recht auf Integrität oder Unversehrtheit
(habeas corpus). Dieses Recht bezieht sich auf den Körper des Menschen,
es gilt ebenso seinen intellektuell-seelischen Ausdrucksformen.
- Die eigene Integrität/Unversehrtheit ist kein ein für allemal fest
gegebener Körper- und Geisteszustand. Er ist von jedem Menschen selbst
zu bestimmen. Die eigene Integrität selbst zu bestimmen, gehört notwendig
zum Recht auf den eigenen Körper.
- Nur dadurch, dass Menschen ihre eigene Integrität bestimmen können,
sind sie in der Lage, ihre Menschenwürde zu leben.
Psychiatrische Zwangsbehandlung verletzt diese Kerntriade aller Menschenrechte:
Integrität/Selbstbestimmung/Würde in all ihren Etappen. Die verschiedenen
Versionen des Zwangs gehören meist zusammen. Sie können jedoch aufgespalten
sein. Jede einzelne verletzt Menschen in ihrem Kern: die zwangsweise ausgepresste
Entscheidung, eine Person ambulant medikamentös gegen ihren Willen zu traktieren;
die gesetzlichen Bestimmungen, die solche Zwangsmedikalisierung, wird sie verweigert,
mit negativen Sanktionen versehen; die zwangsweise Unterbringung einer Person
in einer geschlossene Anstalt; das dahin vegetierende Leben in einer "totalen
Institution"; in einer totalen Institution zusätzlich mit allen möglichen
Instrumenten ausgeübter Zwang ruhig zu bleiben oder Medikamente einzunehmen.
ai hat sich um den Kern der Menschenrechte gegründet und entwickelt. Darum
kann ai als menschenrechtliche Institution die Aufgabe nicht beiseiteschieben,
gegen alle Zwangspsychiatrie mit ihrer in der Regel engen Koppelung mit und
durch staatlich-herrschaftliche Institutionen und deren Vertreter vorzugehen,
wo immer dies möglich ist.
b) Zur tatsächlichen und angeblichen Ambivalenz psychiatrischer
Zwangsbehandlung.
b1. Psychiatrische Zwangsbehandlung wird in der Regel von medizinisch ausgebildeten
Professionen verordnet oder von Vertretern solcher Professionen, also Psychiatern,
legitimiert (von Regimen a la Sowjet-Union, nationalsozialistisches Deutschland
und zahlreichen Spuren solcher Regime heute einmal zu schweigen. Auch dort wird
"die medizinische Wissenschaft" durchgehend als mehrfach weißer,
herrschaftliche Brutalität verhüllender Mantel angezogen. Das Mengele-Syndrom).
Zur allgemeinen Entlastung sich selbst als "normal" begreifender gesellschaftlicher
Verhältnisse und der großen Zahl ihrer Nutznießer wird die
Verwissenschaftlichung der Psychiatrie und deren ´Erkenntnisse´
wahrheitsgleich behandelt. Das gilt vor allem dort, wo sie das staatliche Gewaltmonopol
wissenschaftlich fundiert auszuüben und zu legitimieren scheint. Mit anderen
Worten, wenn die wissenschaftlich-praktische Organisation der Psychiatrie als
angewandte Wissenschaft eine bestimmte Ansicht als herrschende Meinung (analog
zur Jurisprudenz) verkündet und sich ihrer gemäss verhält, wird
auch von nicht-psychiatrischen Institutionen und deren Vertretern so getan,
als sei es dadurch gerechtfertigt, sonst selbstverständlich jedenfalls
als gültig angesehene Menschenrechte zu durchbrechen oder sogar gänzlich
aufzuheben. Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ, der allen Menschenrechten
zugrundeliegt - Menschen dürfen nie und nimmer primär als Mittel oder
Ding gebraucht werden -, geschieht im psychiatrischen Bereich genau dies. Sobald
die angeblich naturwissenschaftlich wahrheitsfähige psychatrische Profession
und ihre Vertreter so oder so befunden haben, können Menschenrechte zwangsweise
suspendiert werden. Abgesehen davon, dass Menschenrechte von keiner immer irrtumsoffenen
und perspektivisch bestimmten, Kontext gebundenen Wissenschaft aufgehoben werden
können, gilt für die Psychiatrie, ihre Geschichte und Gegenwart, dass
sie eine höchst fragwürdige, von den jeweiligen gesellschaftlichen
Umständen stark beeinflusste Wissenschaft darstellt. Deren "Erkenntnisse"
und ihre praktische Umsetzung dürfen auf keinen Fall zwangsweise verwandt
werden. Sie bedürfen vielmehr einer differenzierten mehrstufigen Kontrolle.
Keine Zwangsanstalt ist psychiatrisch zu legitimieren. Vertreter der Psychiatrie,
die Zwang begründen und legitimieren, demonstrieren sich als herrschaftsdienliche
Büttel.
b2. Zur angeblichen oder auch tatsächlichen Gewaltausübung mancher
belasteter Menschen.
Zu unterscheiden ist, wie Menschen mit sich selbst verfahren und wie Menschen
andere Menschen behandeln. Zum einen: Abgesehen davon, dass je nach Gesellschaftsform
Menschen eine Reihe selbstbezogener Gewalt ausüben, gilt menschenrechtlich
eindeutig und klar: Integrität, Selbstbestimmung und Würde dürfen
nicht zwangsweise verletzt werden. Wenn Menschen, die sich je nach gegebenen
Sitten selbst ´Gewalt´ antun, von Anderen daran gehindert werden
sollen, muss die jeweilige Bezugsgruppe Mittel und Wege des strikten Nicht-Zwangs
finden, um sogenannt selbstgefährdete Menschen zu anderen selbstbezogenen
Verhaltensweisen selbst instandzusetzen. Das Risiko ist menschenrechtlich zu
ertragen. Zum anderen: Menschen schlagen andere, üben auf andere Gewalt
aus, weil sie ´out of their mind´ erscheinen. An erster Stelle ist
Vorsicht geboten. Wenn Menschen sich gegen andere aggressiv verhalten, ist das
häufig durch Umstände bedingt, die behoben werden könnten. Zwangseinwirkungen
werden nicht gerechtfertigt. Sie erhalten gerade die Bedingungen, die manche
Menschen ´ausrasten´ lassen. Sollten aggressive Äußerungen
andere, auch völlig Unbeteiligte gefährden, dann sind erneut Mittel
und Wege zu finden, die handfeste Aggressionen für andere gefahrenlos ausagieren
lassen. Zwangseingriffe, geschlossene Anstalten, Gummizellen u.v.a. werden dadurch
nicht gerechtfertigt. Sollte es Extremfälle geben, die aktuell punktuell
vorübergehenden Zwang zu erzwingen scheinen, wird von denjenigen, die der
aggressiven Person nahestehen, sie vertreten, mit ihr zu tun haben, fallspezifisch,
kurzfristig und begrenzt eine prekäre Lösung zu finden sein. Eine
allgemeine, gesetzlich begründete, psychiatrischer Kompetenz anheimgestellte
Zwangs-"Lösung" ist gerade auch dann ausgeschlossen.
c) Zur potentiellen Überlastung und konsequenten Überforderung
von ai
Diese Gefahr besteht ohne Zweifel. Sie ist indes von keiner menschenrechtlich
engagierten Einrichtung und ihren VertreterInnen zu vermeiden. Obwohl die Menschenrechte
angeblich allgemein gelten und von den knapp 200 UN-Mitglied-Staaten akzeptiert
worden sind, sind sie bekanntlich gefährdeter denn je und werden systematisch
durchbrochen. ai und andere Menschenrechtsorganisationen konzentrieren sich
darum vor allem auf bestimmte Verletzungen. Auch im ai-Spektrum besteht jedoch
unvermeidlich eine Kluft zwischen den Aufgaben und den Möglichkeiten, ihnen
gerecht zu werden. Das ist die Situation. Menschenrechtlich rennt man fast immer
hinterher. Nicht selten kommt man wie die Reue zu spät. Diese Situation
und dieses Unverhältnis Aufgaben/Mittel kann nicht dadurch vermieden und
in die richtige Proportion gebracht werden, dass summarisch mit Hilfe von fragwürdigen
Definitionen ganze menschenrechtlich dringliche Bereiche unter der Perspektive
von ai ausgeschlossen werden. Beispielsweise die zahlreichen Fälle psychiatrisch
begründeten Zwangs in nahezu allen Ländern dieser Erde. In "Furcht
und Zittern", trotz allem Engagement dringende Hilfe zu versäumen
, müssen alle menschenrechtlich Engagierten leben. Das ist der Schmerz,
der als Stachel in aller menschenrechtlichen Arbeit steckt.
3. Psychiatrisch legitimierte, gewöhnlich staatlich verrechtlichte
Zwangsbehandlungen gehören zum Aufgabenfeld von ai
Zum ersten: wie sich ai glücklicherweise für direkt, aber auch für
indirekt politische Gefangene einsetzt, so muss sie dies folgerichtig auch für
psychiatrische Gefangene tun. Bekanntlich gibt es seit alters und regimeübergreifend
einen ´lebendigen´ Zwangsaustausch zwischen ´normalen´
Haftanstalten und psychiatrischen Einrichtungen. In Sachen Begutachtung vermengen
sich beide bis zur Unkenntlichkeit.
Zum zweiten: wie ai mit gutem Grund gegen Gefängnisse als totale Institutionen
eintritt - auch wenn sie das Gefängnissystem als ein Absurdes in der Regel
nicht frontal angreift, so ist ai auch gehalten gegen die totale Institution
der Psychiatrie einzutreten.
Zum dritten: das ist der Kern menschenrechtlichen Engagements gerade von Einrichtungen
wie ai, dass sie der doppelten Verkehrung und Verdinglichung von Menschen widerstreiten,
soweit sie es irgend können. Dafür gewinnen sie rettend die Sympathie
vieler Menschen: dass sie Zwangshandlungen, die ein erhebliches Spektrum umfassen
und durchgehend mit Fermenten und Elementen von Folter versehen sind, um der
zu Objekten verkehrten Opfer, aber auch um der zu Unmenschen verkehrten Täter
willen, überall ohne Wenn und Aber bekämpfen. Es geht nicht an, eine
erhebliche, eine auf andere Bereiche ausstreuende Kategorie von Zwangsbehandlung
auszusortieren, weil sie sich mit wissenschaftlicher Tarnkappe versehen kann
und Ängste von uns allen berühren mag: Psychiatrie als Zwangseinrichtung,
die fortdauernd neue Zwänge schaffen muss.