Interview René Hoksbergen + Kommentar

Adoptierte Kinder weichen von dieser dominant verteidigten Norm ab. Ihre Existenz stellt sich vom Standpunkt der herrschenden Ideologie aus gesehen als Zumutung dar. In diesem Sinne erscheint das Leben der von Adoption Betroffenen als eine Leidensgeschichte; Adoptierte werden dargestellt als Menschen mit problematischer Sozialisation und lebenslangen Identitätskonflikten und scheinen sich mitunter auch selbst so zu verstehen.

Wir haben dazu ein Gespräch mit dem bekannten Adoptionsforscher Prof. René Hoksbergen von der Universität Utrecht geführt und senden Ausschnitte aus diesem Telefoninterview:

René Talbot (R.T.):
Herr Hoksbergen, wir freuen uns, dass wir am Telefon mit Ihnen dieses Interview machen können. Es soll darum gehen, was macht Elternschaft aus bzw. wie verhalten sich soziale und biologische Elternschaft zueinander im gesellschaftlichen Diskurs. Noch kurz zu Ihrer Person: sie sind Sozialwissenschaftler?

Prof. René Hoksbergen (P.R.H.):
Ja in Psychologie und Pädagogik.

R.T.: Woran liegt es, Ihrer Meinung nach, dass Adoption immer noch tabuisiert oder stigmatisiert ist?

P.R.H.: Ja, dass es noch immer so ist, wie vor z. B. 50 Jahren, würde ich nicht denken. Natürlich ist ein Kind zu bekommen durch Adoption eine andere Art für die Familie, als selbst ein Kind zu bekommen, die normale Fortpflanzung. Eine Adoption ist natürlich etwas anderes und natürlich kann man fragen: "Was ist los mit dem Kind?" und sie wissen vielleicht gar nichts vom Kind u.s.w. Das wird immer so sein. Wenn Sie das "tabuisieren" nennen, ja. Das wird sich nicht ändern, aber für mich ist das nicht tabuisieren, das sind einfach reale Fragen.

R.T.: Warum wird biologische Elternschaft gegenüber der sozialen gesellschaftlich präferiert?

P.R.H.: Natürlich ist das so - das ist die normale Fortpflanzung.

R.T.: Als Norm?

P.R.H.: Natürlich als Norm und das hat nichts mit Adoption zu tun. Das hat einfach mit dem Gesetz zu tun, dass wir bestehen bleiben wollen, als Menschheit.

R.T.: Ja, aber das können wir auch mit Adoptierten. Das Gesetz ist ein juristische Kategorie und eine gesellschaftspolitische.

P.R.H.: Ja, aber wir wollen uns auch selbst fortsetzen, vielleicht will jeder Mensch so etwas wie Ewigkeit haben. Die Religionen sind nicht für nichts da. Die Religionen sagen oft, wir bleiben ewig da, irgendwie und mit Kindern bleiben wir auch noch leben.

R.T.: Dann kämen wir aber auf ein ähnliches Problem: wie weit sind wir mit Kindern in Projektionen gefangen?

P.R.H.: Sie müssen "Kinder bekommen" und "Adoption" voneinander trennen, weil wenn man adoptiert, dann hat das auch damit zu tun, dass ich möchte gern ein Kind erziehen, versorgen u.s.w. Das ist einfach ein Basisbedürfnis... Wenn man selbst kein Kind bekommen kann, dann wäre 5% bis 10% aller Leute, die selbst keine Kinder bekommen, versuchen, zu adoptieren - das ist also eine kleine Minderheit.

R.T.: Trotzdem ist natürlich der Akt der Adoption doch der der Annahme. Kommt es nicht sehr darauf an, dass ein Kind angenommen und in dem Sinne auch adoptiert und geliebt wird?

P.R.H.: Ja, natürlich. Sie haben völlig Recht.

R.T.: Jedes Kind?

P.R.H.: Das ist auch der Fall - ich sehe immer, dass Adoptiveltern im Durchschnitt - kann man sagen - bessere Eltern sind, als die ganze Gruppe von Eltern, weil sie sehr auf das Kind bezogen und gerichtet sind, sie wollen sehr viel mit dem Kind erreichen.

R.T.: Man könnte doch sehr sinnvoll von einem "Wunschkind" sprechen, oder?

P.R.H.: Ja, hoffentlich sind alle Kinder "Wunschkinder" aber besonders für Adoptivkinder, ist das recht, was Sie sagen. Es ist auch aus Idealismus, wenn Kinder adoptiert werden, weil - es wird in Deutschland auch ungefähr sein - 10 - 15% von allen Adoptiveltern haben schon biologische Kinder d.h. sie brauchen nicht zu adoptieren, um eine Familie zu gründen. Um ein gewissen Maß an Idealismus geht es auch.

R.T.: Sie haben auch geschichtlich gearbeitet und Sie kamen in einer Veröffentlichung auch auf Phasen. Können Sie uns ein bißchen darüber erzählen? welche Phasen kann man dabei unterschieden in den letzten 50, 100 Jahren?

P.R.H.: Ja. In den letzten 50 Jahren, besonders in Holland aber ich denke auch in Schweden und vielleicht auch in Deutschland - in Deutschland sehe ich auch etwas davon - ich habe vier Generationen von Adoptiveltern voneinander unterschieden. Die verschlossene Adoptivelterngenerationen, das war einfach die Generation vor 30, 40 Jahren. Sie wollten sehr gern Kinder haben, waren aber nicht imstande, selbst Kinder zu schöpfen und wollten dann adoptieren und meistens sind das dann auch wie Kinder, die in Deutschland oder in Holland oder in Schweden Geborene. Diese waren auch ziemlich verschlossen. Sie wollten nicht oft mit dem Kind über die Adoption sprechen, z.B. und dass sie ein Kind adoptiert haben, wurde auch nicht an andere mitgeteilt. Ich sage: "öfters", nicht für alle.

R.T.: …oder eher verheimlicht.

P.R.H.: Ja, genau.

R.T.: …oder tabuisiert in dem Sinne.

P.R.H.: Wenn Sie über "tabuisiert" sprechen, dann müssen Sie an diese Generation denken. Dann hat man die 2. Generation, die "offenen, idealistischen" Adoptiveltern - so nenne ich sie halt - und das hat angefangen mit den Adoptionen von Kindern aus anderen Ländern, besonders aus Asien, Südamerika und manchmal aus Afrika. Das waren ganz andere Kinder, mit eine andere Hautfarbe. Man wußte viel weniger von diesen Kindern. Das waren auch Kinder, die aus Armut freigegeben worden waren und diese Eltern hatten oft eigene Kinder, sie brauchten gar nicht ein Kind zu adoptieren, um eine Familie zu bilden. Sie waren sehr idealistisch und auch offen. Ja, so ungefähr…

R.T.: Die 70er, 80er Jahren…

P.R.H.: … und dann später wurde deutlich, dass mit diesen Adoptivkindern allerhand los war. Oft hatten sie ganz schlimme Verhaltensprobleme, die sehr lange dauerten oder oft gar nicht verschwinden kontnen, so daß wir viel mehr Kenntnisse haben müßten, um besser mit diesen Kindern umgehen zu können.

Ich nenne diese 3. Generation die "realistische Generation". Sie wollten viel mehr lesen über Adoption, Schwierigkeiten, Verhaltensprobleme der Kinder u.s.w. Ja, und jetzt hat sich wieder eine Änderung vollzogen und man kann sagen, dass jetzt, weil viel mehr Kinder aus China kommen - das sind ziemlich junge Kinder und für 90 - 95% sind das Mädchen - kann man sagen, dass man etwas optimistischer geworden ist aber auch fordernder. man will wirklich sehr junge Kinder haben und oft aus China - z. B. in Holland im vorigen Jahr waren das 800, 900 aus China angekommen, das sind sehr viele - die ein junges Kind haben…

R.T.: Kurze Zwischenfrage: Wie ist der Anteil im Vergleich zu den Inlandsadoptionen?

P.R.H.: In Holland werden fast keine Kinder freigegeben. In Deutschland sind es mehr, das weiß ich, das ist aber ein größeres Land. Das ist aber jedes Jahr weniger jetzt, das ist derselbe Prozess, wie in Holland. Die letzte Generation ist auch sehr fordernd und es war bei der 2. Generation, der offenen, idealistischen Generation, gar nicht so. Sie akeptierte leicht ältere Kinder, 3, 4, 6 Jahre alt oder vielleicht sogar noch älter aber die letzte Generation, die fordernde Generation, die will am meisten - nicht alle - aber meistens Kinder unter 2 Jahre adoptieren. Die Eltern hoffen dann, dass es weniger Verhaltensprobleme geben wird mit ihrem Kind.

R.T.: Sie weisen in ihren Publikationen öfters darauf hin, dass Adoptierte in der Regel Probleme mit ihrer Identitätsfindung haben. Welche Rolle spielen dafür traditionelle Vorstellungen von Subjektkonstitution als Derivat einer biologischen Gruppe?

P.R.H.: Ja, ich denke, dass die Probleme mit der Identitätsfindung damit zusammenhängen, dass man einfach als Mensch in der eigenen Stammgruppe leben will, man will wissen wer man ist, von wem hat man bestimmte Charakteristiken, bestimmte Merkmale und man fühlt sich sicherer in der eigenen biologischen Familie, das ist einfach so und man muß es wirklich anpassen - verstehen Sie das? - man muß es wirklich anpassen an eine andere Familie und dann sieht man öfters, dass man sich einsam fühlt, dass man sich allein fühlt, dass man sich anders fühlt, so die Identitäsprobleme von adoptierten Leuten, die muß man sehr ernst nehmen, man muß akzeptieren, dass es das gibt.

R.T.: Die andere Frage natürlich ist, in wieweit ist es auch eine gesellschaftlich-politische Frage, eine soziale Frage ist bzw. auch ein kulturelle Frage. Dahinter steht die Frage, in wieweit man akzeptiert, eine Autobiografie zu entwickeln im Gegensatz zu eine Biografie nur haben, also eine Autobiografie, sich selbst auch als Mensch zu setzen und entwickeln und sozusagen seine Freiheit annehmen.

P.R.H.: Ja, das können sie so sagen aber ich sage, dass ohne Vergangenheit, ist das sehr schwierig und die Vergangenheit findet man in der eigenen biologischen Familie.

R.T.: Warum "biologisch", warum nicht "sozial"?

P.R.H.: Ja, das gehört zusammmen, weil die biologische Familie ist natürlich auch kulturell und sozial verknüpft an einer neuen Generation, das verstehe ich nicht ganz genau. Ich würde sagen, dass ohne Vergangenheit mit dem Leben in den eigenen biologischen Familie sehr schwierig ist, einfach schwierig ist, ganz sicher zu fühlen von sich selbst aus, weil man hat dann nicht so sehr die Hilfe von der Familie gehabt. Natürlich haben Adoptivkinder sehr viel Hilfe von der Adoptivfamilie, natürlich ist das so und grundsätzlich mehr, als die andere Leute aber ich meine, das ist Gefühl, Gefühl des Zusammenseins. Ich sage zu meine Studenten immer: ein Kind ist seine Eltern. Ich meine damit, ein Kind ist ein Teil von seinen Eltern und damit meine ich "mental", also "psychisch" und nicht nur "physisch". Das ist ganz wichtig und für adoptierte Kinder ist das schwierig - nicht immer, aber öfters ist das schwierig, das zu erholen. Daher sieht man auch, dass viele dieser Kinder, wenn sie erwachsen sind, nach ihren Herkunftsland reisen wollen, auf der Suche nach ihrer biologischen Familie, Bruder oder Schwester u.s.w. und das machen die meisten, 90, 95% versuchen das.

Untersuchungen haben uns das gelernt und das ist auch kein Problem für Adoptiveltern, sie können ruhig ihren Kindern mithelfen und das ist auch wichtig, das zu tun und ich sage auch nicht, dass alle Adoptivkinder sich unglücklich fühlen, das ist gar nicht so aber sie müssen mehr Schwierigkeiten überwinden als andere Leute. Das was Sie gefragt haben über die Identitätsfindung, ist eine wirklich wichtige Sache, da haben Sie recht.

R.T.: Gut, Herr Professor Hoksbergen, wir bedanken uns für das Gespräch.

Dem Adoptionsforscher fällt es schwer, Adoption nicht in erster Linie unter den Vorzeichen einer Abweichung vom Normalen, nicht als defizitäre und prekäre Form der Verwandtschaft zu verstehen. Wiewohl er Adoptionseltern ein häufig hohes Maß an Idealismus bescheinigt, verkennt er den emanzipatorischen Impuls dieser Form von Familienbildung.

Denn Adoption ist per Definition der Akt der willentlichen Annahme eines Kindes. Sie ist die positive, gewollte Zustimmung zu der Lebensform und Rolle des Mutter- bzw. Vaterseins als bewusster Entscheidung für einen Lebensabschnitt, wenn nicht für ein ganzes weiteres Leben. Wenn Elternschaft zu einem bereits geborenen Menschen freiwillig zustande kommt – nicht nur als Resultat von Sexualität gesehen wird - , stellt dies das Eltern-Kind Verhältnis von vornherein auf eine gewaltfreie Basis. Diese freie Entscheidung kann erst die Übernahme von Verantwortung begründen. Die gängige Rede vom „Wunschkind“ entfaltet nur mit diesem positiven Blick auf Adoption ihren wohlverstandenen Sinn.


Gesendet am 09.03.2006 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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