Interview mit Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Psychiatrische Zwangsbehandlungen - Folter oder Medizin?

Gespräch mit PD Dr. Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Dissidentenfunk: Herr Bielefeldt, Ihr Institut wurde im März 2001 auf Empfehlung des Deutschen Bundestages gegründet und hat die Aufgabe, über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland zu informieren und zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte beizutragen.
Hat sich Ihr Institut in der Vergangenheit schon einmal mit psychiatrischem Zwang beschäftigt?

Heiner Bielefeld: Da muss man offen sagen, dass das für uns bislang ein ziemlich neues Thema ist. Wir haben eine sehr breite Themenpalette. Die hat was zu tun mit Fragen der Entwicklungspolitik, mit außenpolitischen Fragen, etwa der Dialoggestaltung zu Menschenrechtsthemen mit China, Iran ... Wir haben uns auch mit innenpolitischen Themen, etwa der Frage der Folter aktuell dem Thema Rassismus beschäftigt; und wir haben starke Akzente in der Menschenrechtsbildung. Der Bereich Psychiatrie ist einer, zu dem wir bislang nicht intensiver gearbeitet haben.

Das Thema Folter ist eines Ihrer Ihrer Spezialthemen. Wir hatten ungefähr vor einem Jahr auf einer Veranstaltung mit dem Titel "Nur ein bisschen Folter" ein Gespräch in dem Sie, sehr vorsichtig und zurückhaltend, sagten, Sie könnten sich vorstellen, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen Zwangsbehandlungen notwendig bzw. gerechtfertigt seien. Hatte Ihre Unsicherheit vielleicht etwas damit zu tun, dass eine Anerkennung der Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen "unter bestimmten Umständen" genau wie das Foltern "unter bestimmten Umständen" eine Teilung der Menschenrechte bedeuten würde und damit dem Prinzip der Menschenrechte den Boden entziehen würde?

Es gibt ja unterschiedliche Menschenrechtsnormen und mir scheint, dass beim Thema "Zwangsbehandlung in der Psychiatrie" insbesondere zwei Menschenrechtsnormen unmittelbar einschlägig sind, nämlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit und - wichtiger noch - das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. "Freie Entfaltung der Persönlichkeit" heißt, dass das Recht eines Kranken zu respektieren ist, auch nicht behandelt zu werden. Selbst der Anspruch, Gesundheitsfürsorge zu leisten, darf nicht die Autonomie des Menschen zerstören. Das sind die beiden Normen, die mir besonders einschlägig zu sein scheinen. Und das ist nicht nur meine persönliche Meinung. Denn wenn man sich die Rechtsprechung in Deutschland zu diesem Thema und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte anschaut, dann findet das dort auch Unterstützung.

Und wie steht es mit "Gedankenfreiheit" bzw. "freedom of thought"? Ist das nicht auch noch ein wesentlicher Aspekt?

Sie meinen Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Einen Zusammenhang sehe ich da erst einmal nicht. Denn Freiheit, Gedanken zu äußern, auch Gedanken, die weit abweichen vom Mainstream ist natürlich auch eine menschenrechtliche Gewährleistung. Ich kann mir vorstellen, dass in weiteren Phänomenbereichen das auch einschlägig ist. Aber wenn es jetzt unmittelbar um den Zwang und die Zwangsmedikation geht, dann sehe ich insbesondere diese beiden eben genannten Menschenrechte und Grundrechte (körperliche Unversehrtheit und freie Persönlichkeitsentfaltung) tangiert.

Aber etwa auch Diskriminierungsschutz, der ein Strukturmerkmal der Menschenrechte ist. Das ist auch im BGH-Urteil zur ambulanten Zwangsbehandlung angesprochen worden, dass nämlich Menschen, die dann sozusagen von der Polizei abgeholt und zur Zwangsmedikation überstellt werden, natürlich eine Stigmatisierung durch ihr Umfeld erleben können. Also da wurde ausdrücklich auch auf den Diskriminierungsschutz verwiesen. Man hat also mehrere menschenrechtliche Referenzen über die beiden anderen, die mir besonders einschlägig erscheinen, hinaus.

Ich möchte doch noch einmal auf "freedom of thought" zurückkommen, vor allem hinsichtlich der Frage, was das Ziel jeder psychiatrischen Behandlung ist. Es geht doch schließlich immer darum, "thoughts, feelings, and behavior", also Gedanken, Gefühle und Verhalten, zu verändern. Und das gegebenenfalls immer auch mit Zwang. Insofern ist das für uns sogar ein ganz zentraler Punkt. Im Jahr 2001 hatten wir deshalb auch das Russell-Tribunal und die Veranstaltung "Geist gegen Gene" unter den Obertitel "Freedom Of Thought" gestellt. (Anerkennung erhielt die Veranstaltung übrigens auch durch ein Grußwort der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson.)
Wird also die Gedankenfreiheit nicht durch psychiatrische Zwangsmaßnahmen angegriffen und in Frage gestellt? Das ist doch das Ziel der Behandlung ...

Das ist dann jetzt wirklich eine Frage, die ich so nicht beantworten kann. Ich kann mich jetzt zunächst mal nur auf die Gerichtsurteile, die ich gelesen habe, stützen. Und da war die Unterstellung jeweils die, dass es sich nicht um Missbrauch von Zwangsmedikation handelt, sondern um einen, jedenfalls mit dem Anspruch auf Heilbehandlung für den Betroffenen im Prinzip zunächst einmal für prüfungswürdig erachteten Eingriff. Und die Ergebnisse waren dann, dass angesichts des hohen Wertes des Grundrechts auf Autonomie, so das BGH-Urteil aus dem Jahr 2000 zur ambulanten Zwangsbehandlung und auch das jüngste Urteil des Celler Oberlandesgerichts, dies nicht ausreicht. Also selbst das Wohl des Patienten kann nicht gegen die Autonomie des Patienten ausgespielt werden .

Von freedom of thought war jedenfalls in diesen Gerichtsurteilen nicht die Rede und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das bislang nicht beachtet. Wenn man sich jetzt mal umschaut in der Welt, was in psychiatrischen Einrichtungen passiert, dann will ich nicht ausschließen, dass schon die Möglichkeit, jemanden für verrückt zu erklären natürlich eine Möglichkeit bedeutet, auch Meinungsäußerungen, Überzeugungen, die außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams sind auf diese Weise zu marginalisieren oder zu unterdrücken.

Eine typische Äußerung ist natürlich die Absicht sich selbst zu töten. Das ist ja eines der Kernprobleme ...

So ist es ...

Und wenn die mit Zwang behandelt wird, dann läuft das doch schon dem Geist von freedom of thought zuwider.

Das ist nun allerdings eine Aussage, die ich nicht unterschreiben würde. Es ist ja so, dass es mehrere menschenrechtliche Verbürgungen gibt, die manchmal in Konflikt miteinander geraten. Bislang ist es so, dass man dem Lebensrecht einen Stellenwert derart gibt, dass die Möglichkeit der Selbsttötung jedenfalls nicht als Menschenrecht gefasst wird ...

... es geht nur um den Gedanken. Der Gedanke, sich selbst umbringen zu wollen, soll ausgetrieben werden. Hier geht es doch um eine menschenrechtliche Frage, nämlich die Abwägung zwischen Recht auf Leben bzw. dessen Schutz und der Menschenwürde. Artikel 1 betont ja gerade die Menschenwürde und ihre Unantastbarkeit und nicht den Lebensschutz. Auch bei der Diskussion um Folterfreiheit ist die Menschenwürde der zentrale Begriff ...

Ich kann ihnen trotzdem noch nicht zustimmen. Und zwar, weil Meinungsäußerungen, etwa zu Fragen der Euthanasie, Äußerungen eines Menschen auch über seinen eigenen Tod oder auch über einen Freitod nachzudenken, als solche in der Gesellschaft durchaus kursieren können. Die in der Rechtsprechung bearbeiteten Fälle, die haben nicht damit zu tun, einen solchen Gedanken zu verbannen, sondern das Leben des Menschen vor der Selbstzerstörung zu schützen. Das ist nach wie vor immer noch eine Leitlinie auch der menschenrechtlichen Rechtsprechung, auch international, dass man zwar nicht mit dem Anspruch auf Gesundheit - denn der ist bedingt - dem Menschen seine Autonomie nehmen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat ja sogar eine Formel gewählt, dass in gewissen Grenzen Menschen die Freiheit haben, auch krank zu sein, auch sich zur Krankheit zu entscheiden.

Aber ein Recht auf Selbstzerstörung, also das heißt tatsächlich Lebenszerstörung, das wäre menschenrechtlich nicht denkbar, weil das Recht auf Leben ja selber auch dazu zählt.

... es ist aber nicht sanktioniert ...

Der Staat ist gehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Menschen vom Suizid abzuhalten ...

... aber nicht mit Zwang. Und es ist auch nicht sanktioniert. Der Staat hat vielleicht die Aufgabe, Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich der Einzelne für das Leben und nicht für den Tod entscheidet. Aber es gibt keine rechtliche Grundlage dafür, jemanden mit Zwang vom Selbstmord abzuhalten. Das ist nirgendwo so und würde auch keinen Sinn machen.
Das ist ja auch in der Sterbehilfe-Diskussion jetzt nochmal thematisiert worden. Als Alternative wird eben das Schmerzfrei-Stellen, Palliativmedizin usw. angeboten. Das ist immer ein Angebot,und eben nicht Zwang.
Warum gibt es dann auf einmal doch ein Konfliktgebiet im Gesundheitsbereich, nämlich dann, wenn die Frage über Geisteskrankheit gelöst wird, das heißt wenn der zum Geisteskranken erklärte sich nicht mehr umbringen darf, jeder andere es aber darf.

Nun, es gab ja auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu einem Suizidbegehren einer schwer kranken Frau und das ist abgelehnt worden ...

... nein, dabei ging es um Hilfe zum Suizid. Da muss aber eine andere Person intervenieren. Das ist eine ganz andere Frage: jemand anderes muss töten.

Das ist richtig.

Und das darf nicht erlaubt sein. Mir geht es um den reinen Akt der Selbsttötung. (Natürlich ohne jemand anderes in Mitleidenschaft zu ziehen, wie der Selbstmordattentäter. Das ist jenseits dieser Frage.)

... ja, das ist klar ...

Die Praxis ist ja die, dass dieses Recht auf Selbsttötung umgangen wird, indem man einfach sagt, dieser Mensch ist geisteskrank und es ist gar nicht sein Entscheidung, er möchte das gar nicht, er möchte sich nicht töten. Diese Beurteilung nehmen Ärzte vor und tun dann etwas mit diesem Menschen, was sie dann "Behandlung" nennen. Tatsächlich unterziehen sie den Betroffenen jedoch einer Gehirnwäsche, damit er von diesem Gedanken abkomme.
Würden Sie das noch als ärztliches Handeln ansehen?

Sie haben ja gerade einen Begriff gewählt, den ich eben ausdrücklich nicht übernehmen würde: sie haben von einem Recht auf Selbsttötung gesprochen. Ein Recht auf Selbsttötung hieße, ein Recht auf Vernichtung sozusagen der vitalen Basis des Rechtssubjekts. Das scheint mir menschenrechtlich undenkbar.

Dann nennen wir es das Recht auf Eigentum am eigenen Körper, was die Selbsttötung einschließen würde.

Nein, auch das ist menschenrechtlich nicht denkbar. Ein Recht in diesem Sinne auf völlige Selbstverfügung über den eigenen Körper bis zur Selbstzerstörung scheint mir als Menschenrecht nicht denkbar zu sein. Dass es auf einer anderen Ebene natürlich nicht möglich ist, einen Menschen tatsächlich daran zu hindern, das würde ich ja konzedieren. Aber das positiv als ein Recht zu postulieren, das würde ich auf keinen Fall unterschreiben. Da haben Sie auch nicht den Konsens der Menschenrechtsbewegung. Da gibt es wirklich Streitfragen. Es ist durchaus ein Bestandteil auch einer Diskussion, gerade um diese bioethischen Grenzfragen bis hin zur Euthanasie, ob so etwas in den Menschenrechtsdiskurs hineinkommen kann. Das ist derzeit nicht der Fall. Ich bin da persönlich auch ausgesprochen zurückhaltend. Da sehe ich sehr große Gefahren.

Wo wäre denn dann die Grenze, wenn das Subjekt als Subjekt seine Wünsche äußern kann und danach handeln kann, das heißt Handlungsfreiheit haben soll? Es geht doch hier um die Absicht, auf die mit psychiatrischen Zwangsmaßnahmen reagiert wird. Ich äußere den Gedanken, mich eventuell umbringen zu wollen. Ich habe es noch lange nicht getan. Bis zum letzten Schritt, bevor ich vom Dach hinunter springe, kann ich immer noch zurück ...

Um es erst einmal sehr grundsätzlich zu sagen: Menschenrechte sind unveräußerliche Rechte. Das ist ein interessanter Begriff. Unveräußerlich heißt: sie stellen eine Anforderung auch an den Menschen dar, sein eigenes Recht zu wahren aber damit auch die vitale Grundvoraussetzung seines eigenen Rechts. Freiheit ist in diesem Sinne nicht die völlige Beliebigkeit, dass also beispielsweise niemand das Recht hat, sich freiwillig zu versklaven. Das war eine klassische Diskussion. Man hat im 18. Jahrhundert noch, also als die Menschenrechtsidee auf kam, in der Rechtstheorie vielfach gesagt, Sklaverei geht eigentlich nicht, aber wenn jemand sich selber versklavt, auch seine Nachkommen versklavt, dann geht's.

Dann braucht er aber einen Partner, der ihn kauft ...

Wie auch immer. Es geht darum, dass man sich selbst verkauft. Dann kam genau dieser Gedanke auf, diese Formel, die bis heute gilt: unveräußerlich, das heißt ich darf mich selber nicht verkaufen. Ich habe in diesem Sinne kein Eigentum an mir selber. Freiheit heißt, ich habe Verantwortung für mich, aber ich habe kein Eigentum an mir. Ich habe Verantwortung für meinen Leib, für meinen Geist, aber ich kann ihn nicht als Eigentum verkaufen. In diesem Sinne ist das nicht einfach dasselbe wie das Selbstverfügungsrecht. Das ist jetzt eine sehr philosophische Grundfrage, die ist aber davon betroffen.

Freiheit heißt also Verantwortung. Wie der Mensch von dieser Verantwortung Gebrauch macht, das entzieht sich der Kontrolle von außen. Aber positiv zu propagieren, dass jemand das Recht auf Selbstzerstörung hätte, so nach dem Motte: mein Körper ist ja schließlich mein Eigentum, das halte ich für ganz problematisch. Das würde ich auch definitiv ablehnen, um es noch schärfer zu sagen.

Ich würde es ja für eine Selbstverständlichkeit halten ... Ich würde ihnen doch gerne noch einmal diese Frage stellen: wer soll denn die Beurteilung vornehmen? Ich habe vorhin schon erwähnt, dass dafür gewöhnlich der Arzt bzw. der Psychiater zuständig ist. Finden Sie das rechtens?

Also da kann man sich nun wirklich beziehen auf beispielsweise dieses neue Gerichtsurteil aus Celle, vom Oberlandesgericht Celle, das die Patientenautonomie gestärkt hat. Und das, wie ich finde, mit guten Gründen, die ich unterstütze. Das Gericht sagte sehr klar, der Anspruch, wohlwollend zugunsten eines anderen zu handeln ist kein Ermächtigungstitel, um den Willen eines anderen Menschen zu beiseite zu schieben. Auch die Vollmacht eines Vertretungsberechtigten kann also nicht so weit gehen, dass man Grundrechte - und die Patientenautonomie gehört dazu - einfach beiseite fegt; auch ärztliches Handeln hat Grenzen. Also die Patientenautonomie ist ein hoher Wert, ein sehr hoher Wert, und sie kann nicht mit dem Anspruch auf das Wohl des Patienten beiseite geschoben werden. Das ist der Punkt. Und da will ich noch einmal sagen, die Formel des Bundesverfassungs­gerichts (die allerdings auch eine vorsichtige Formel ist) geht soweit, auch zu sagen, es gibt eine "Freiheit zur Krankheit", aber eine Freiheit zur Krankheit in gewissen Grenzen. Wo die genau verlaufen, ist damit offen. Aber das ist nicht die Freiheit zur Selbstzerstörung! Ich mag zugestehen, dass es nicht von außen beurteilbar ist und dass man da vielleicht Menschen Ermessensspielräume bis ins Absurde zugestehen sollte. Aber positiv propagieren, ein Recht auf Selbstzer­störung, ein Recht auf Selbsttötung ist im menschenrechtlichen Kontext sozusagen schon logisch ausgeschlossen.

Sie sprechen ja einen interessanten Punkt an. Sie sagen, es gibt ein Recht auf Krankheit in gewissen Grenzen. Dann stellt sich natürlich die Frage, wer diese Grenzen zieht bzw. ziehen kann. In der Praxis ist es der Mediziner oder Psychiater, dem diese Eigenschaften zugesprochen werden und dem damit das Recht zugestanden wird, diese Grenzen zu bestimmen ...

Da kann man mittlerweile eine ganze Reihe von Urteilen zitieren. Herr Sachenbrecker hat ja auch in seinem Kommentar zu dem jüngsten Urteil aus Celle ungefähr formuliert, dass jetzt die Ärzte nicht mehr die "Richter in Weiß" sind, dass also der Patient in diesen Fragen nicht einfach der Weisheit des Arztes ausgeliefert werden darf. Genauso wenig darf er rechtlich der Entscheidungsvollmacht eines Betreuers oder einer Betreuerin ausgeliefert werden, sondern hier ist die Autonomie des Patienten zu achten.

Deshalb ist ein entsprechend fremd bestimmendes Handeln, nämlich einer Verabreichung von Psychopharmaka bzw. Neuroleptika, gegen den Willen des Patienten ja ausdrücklich als rechtswidrig erklärt worden. Das zeigt, wie stark die Patientenautonomie hier gewertet worden ist. Und das ist ja schon eine neuere Tendenz in der Rechtsprechung. Das finde ich auch gut so!

Das Oberlandesgericht Celle hat ja auch gesagt, dieser Eingriff sei deswegen rechtswidrig, nicht weil er unverhältnismäßig sei, sondern weil es keine Rechtsgrundlage gebe. Nun ist es in der Vergangenheit immer so gewesen, dass auch Menschenrechtler, wenn es um die Frage ging, ist Zwang in der Psychiatrie eine Menschenrechtsverletzung per se oder nicht, sie sich immer darauf berufen haben, das sei nicht der Fall, aus dem einfachen Grunde, weil es gesetzlich geregelt sei. Nun hat das OLG Celle festgestellt, das ist nicht gesetzlich geregelt. Wie würden Sie das einschätzen, hat das einen Einfluss auf den menschenrechtlichen Diskurs?

Ich meine, ähnliche Beanstandungen gab es ja auch schon wiederholt. Also auch das bereits erwähnte Urteil des Bundesgerichtshofs, das ja das höchst richterliche Urteil ist, das es zur ambulanten Zwangsbehandlung gibt, hat ähnlich geurteilt, dass eine gesetzliche Grundlage fehlt. Dass zwar die Möglichkeit von Unterbringung gegen den Willen eines Betroffenen, vielleicht auch zum Schutze Dritter, gegeben und dies auch rechtlich geregelt sei, Zwangsmedikation aber keine gesetzliche Grundlage hat. Wobei der Bundesgerichtshof damit offen lässt, ob man eine solche gesetzliche Grundlage schaffen könnte. Da sind dann natürlich noch sehr viele Rechtsfragen zu klären, unter anderem das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das ja sehr streng zu interpretieren ist, wenn es wie hier um Grundrechtseingriffe geht. Aber zunächst mal die Feststellung: es gibt dazu keine gesetzliche Grundlage für diese Maßnahmen.

Der gesamte Bereich der Medizin beruht auf einem Prinzip, das als informed consent oder "informierte Zustimmung" bezeichnet wird. Eine Ausnahme gibt es allerdings und das ist bekanntlich die Psychiatrie. Hier werden tagtäglich auch unter Zwang psychiatrische Drogen verabreicht, Menschen ans Bett gefesselt oder Elektroschocks ausgesetzt. Die Atmosphäre in der psychiatrischen Klinik, egal ob auf der offenen oder der geschlossenen Station, ist die einer ständigen Bedrohung durch Zwangsmaßnahmen, denen man unterworfen werden kann, sobald man nicht das zeigt, was als sogenannte "Krankheits- und Behandlungseinsicht" bezeichnet wird. Wieso fällt es Menschenrechtlern so schwer, diese Situation als eklatante und systematische Verletzung der Menschenrechte anzuerkennen und psychiatrische Zwangsmaßnahmen als Folter zu brandmarken?

Das sind jetzt mehrere Fragen gewesen. Den Folterbegriff sollten wir vielleicht gleich noch einmal extra diskutieren. Dass in der Psychiatrie, gerade auch aufgrund der von Ihnen beschriebenen Situation des Ausgeliefertseins strukturell die Risiken von Menschenrechtsverletzungen bestehen (ich weiß, das ist nicht genau der Punkt, auf den Sie hinaus wollen)

... dann lassen Sie uns sagen: schwere und systematische Menschenrechtsverletzung ...

... gut, das ist menschenrechtlich durchaus gesehen und anerkannt. Um ein Beispiel zu nennen: das Zusatzprotokoll zur Anti-Folterkonvention der UNO sieht ja vor, die Bereiche, in denen Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden, präventiv zu durchleuchten, sozusagen strukturelles Monitoring durchzuführen. Und das nicht nur strukturell, sondern auch die Orte wirklich anzuschauen, ohne große Anmeldung. Dazu zählt ausdrücklich der Psychiatriebereich. Neben Gefängnis, neben Polizei ... Es gibt noch weitere Bereiche. Der Psychiatriebereich wird sozusagen als sensibler Bereich, als Bereich struktureller Menschenrechts­gefährdung, Menschenrechtsverletzung, auch schwerer Menschen­rechts­verletzung gesehen. Als Risikobereich ist er also im Blick.

... aber nicht per se ...

Was heißt denn "per se"?

Dass der zwangsweise Eingriff systematisch erfolgt. Wenn es ein systematischer schwerer Eingriff ist, dann kann ich das nicht mehr mit "Beseitigung von Missständen" ändern.

Was den Eingriff angeht ...

... und die Eingriffstiefe ...

... und die Eingriffstiefe angeht, da befinden wir uns natürlich in einem Bereich, der menschenrechtlich geschützt ist. Ich hatte ja die beiden wichtigsten Referenzen schon genannt, die auch in der Rechtsprechung regelmäßig bemüht werden: freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche Integrität. Das ist völlig klar.
Sie haben jetzt auch den Begriff "Folter" in die Debatte gebracht. Wenn man sich anschaut, wie Folter definiert wird, auch im Kontext der Vereinten Nationen, würde ich sagen, dass die Zwangspsychiatrie nicht schon per se den Tatbestand der Folter erfüllt.

An welchem Punkt nicht?

Im wesentlichen sind es drei Merkmale, die in Artikel 1 der UN-Anti-Folterkonvention bemüht werden. Das erste ist, dass diese dem Staat zugerechnet werden muss, dass wäre hier natürlich der Fall. Zweiter Punkt: erhebliches Leiden. Auch das dürfte in vielen Fällen der Fall sein. Der dritte Punkt ist die Zwecksetzung. Die Zwecksetzungsbeispiele, die in der Anti-Folterkonvention als Definitionsmerkmale genannt werden, setzen nun voraus, dass Folter den Menschen instrumentalisiert zugunsten Dritter. Also zum Beispiel zur Ein­schüchterung, zur Bestrafung, zur Demütigung, zur Aussageerpressung.

... in der Psychiatrie wird "Krankheits- und Behandlungseinsicht" erzwungen ...

Da kommt es drauf an ... Aber ich würde erst einmal sagen, von der Definition her, haben wir einen anderen Fall, menschenrechtlich dennoch problematisch und in hohem Maße gefährlich. Der Anspruch ist ja, dass dies nicht Dritten nützt, dass der Mensch nicht instrumentalisiert wird, zugunsten zum Beispiel der Gesellschaft, zugunsten der Informationsgewinnung, oder der Abschreckung, sondern dass dies dem Wohle der betreffenden Person dienen soll.

Das ist der Anspruch. Jetzt werden Sie wahrscheinlich sagen, in der Wirklichkeit ist dies ganz anders. Das mag der Fall sein. Das will ich nicht im einzelnen beurteilen. Aber ich würde zunächst mal sagen: Von der Definition her, von den Tatbeständen her, ist Zwangspsychiatrie nicht per se schon als "Folter" zu bezeichnen. Womit ich gewiss nicht ausschließe, dass in der Praxis das in Bereiche hinein rutschen kann, die durchaus den Tatbestand von Folter oder grausamer und unmenschlicher Behandlung erfüllen.

Deshalb ist es wichtig, dass der Bereich der Psychiatrie systematisch auch einem menschenrechtlichen Monitoring unterzogen wird. Die Zwangspsychiatrie schon per se als Folter zu bezeichnen, würde ich aber aus dem gerade genannten Grund ablehnen.

Das Zusatzprotokoll sprengt ja nicht den Rahmen. Es möchte ja in dem Rahmen dafür sorgen, dass alles "im Rahmen" bleibt. Die Frage wäre ja eigentlich, warum sich niemand, auch nicht im menschenrechtlichen Bereich, genauer mit dieser Frage befasst: ob oder warum man Zwangspsychiatrie an sich als Menschen­rechts­verletzung betrachten könnte. Insbesondere unter dem Aspekt, dass zwei von drei Kriterien für Folter erfüllt sind und das dritte im Sinne der Erzwingung von Krankheitseinsicht bzw. Behandlungseinsicht von uns angemahnt wird.

Aber darüber hatten wir uns ja weitgehend schon geeinigt. Bei der Folter bin ich wie gesagt zurückhaltend. Ich würde sagen, dabei bleibe ich auch. Es ist nicht per se Folter. Aber es ist natürlich auf jeden Fall ein Eingriff in Menschenrechte, ein Eingriff in Grundrechte, in die körperliche Unversehrtheit ...

... schwer und systematisch; das ist noch die Differenz ...

Natürlich ist es ein Eingriff. Das wird ja nicht bestritten.

... schwer und systematisch ...

... das ist eine Frage des Phänomens. Auch wenn es ein regelmäßiger Eingriff ist, dann ist es natürlich ein systematischer Eingriff. Und was die Eingriffstiefe angeht, das kommt dann auf die Fälle an.

Aber natürlich sind es Eingriffe in Menschenrechte und Grundrechte. Das wird in der Rechtsprechung gesagt. Insbesondere die Beeinträchtigung bzw. Ignorierung der Autonomie des Patienten, das ist der sensible Punkt. Was dann auch die Rechtsprechung, die Ihren Interessen entgegenkommt, immer noch offen hält, ist, ob das im Rahmen gesetzlicher Regelung, im Rahmen des Verhältnis­mäßigkeitsprinzips in gewissen Grenzen geschehen könnte, nämlich dann, wenn anders lebensbedrohliche Situationen nicht abgewehrt werden können. Also das ist immer noch nicht ganz klar. Da gibt es auch bislang keine höchst richterliche Rechtsprechung vor allem für die stationäre Psychiatrie. Da sind noch einige Fragen offen.

Aber das ist auf jeden Fall ein menschenrechtlicher Problembereich. Und ein Problembereich, wo man sich vorstellen kann, dass wir bei den Phänomenen auch in praktizierte Formen von grausamer und unmenschlicher Behandlung bis zur Folter hineingeraten können. Sonst wäre es ja auch unsinnig, das unter dem Zusatzprotokoll zur Anti-Folterkonvention einem ausdrücklichen Monitoring zu unterziehen. Das muss geschehen.
Ich will Ihnen auch gern zugestehen, dass viel mehr Aufmerksamkeit auch aus menschenrechtlicher Sicht für diesen Bereich notwendig wäre ...

Das Celler Urteil hat festgestellt, dass Zwangsbehandlungen rechtswidrig sind, weil dafür keine gesetzliche Grundlage besteht. In diesem Sinne wäre ja auch die zwangsweise Unterbringung in der psychiatrischen Klinik ohne Rechtsgrundlage, denn wenn nicht behandelt werden kann, dann ist die Unterbringung nur noch eine - unzulässige - Bestrafung.

Das steht aber im Urteil so nicht drin.

Die Logik aber schon. Deshalb feiern wir ja auch einen besonderen Sieg, denn wenn die Behandlung fällt, dann fällt die Unterbringung, weil sie dann nur noch Verwahrung bzw. unzulässige Bestrafung wäre, weil ja nicht mehr behandelt werden kann.

Es ist dem Anspruch nach natürlich keine Bestrafung. Dennoch ist natürlich jede Zwangsmaßnahme und also auch jede Zwangsunterbringung einer besonderen Rechtfertigung bedürftig. Die Tatsache, dass wir hier eine gesetzliche Grundlage haben, ist noch nicht die Rechtfertigung. Es geht dann natürlich auch darum, Gesetzesnormen daran zu messen, ob sie den Grundrechten gemäß sind ...

Es darf keine Schutzhaft sein ...

... es darf keine Schutzhaft sein, das ist richtig. Deshalb sind dann auch weitere juristische Sicherungen erforderlich. Aber das Celler Urteil sagt dazu nichts. Es geht ausdrücklich und ausschließlich um die Zwangsmedikation und nicht um die Zwangsunterbringung.

Wie sehen Sie die Chancen, dass der Versuch, doch noch ein Gesetz zu schaffen, das Zwangsbehandlung legitimiert, scheitert?

Es hat ja bereits im Frühsommer im Bundestag einen Versuch gegeben, ein Gesetz zu schaffen, das die Eingriffsoptionen erweitert hätte. Das ist gescheitert. Und das ist interessanterweise auch von allen Fraktionen des Bundestages abgelehnt worden, als ein Entwurf, der die Patientenautonomie nicht angemessen berücksichtigt hätte. Ich kann das nur begrüßen.

Herr Bielefeld, wir danken Ihnen für das Gespräch.


Diese Transkription wurde von Heiner Bielefeld für die Veröffentlichung autorisiert.


Gesendet am 10.11.2005 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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