Antipsychiatrie ... Teil IV

Ich hoffe, es ist jetzt verständlich, wie zentral die Frage des Zwangs und die Ausübung staatlicher Gewalt für die beiden Pole der Linken ist. Zwei besonders offensichtliche Bereiche staatlichen Handelns werden wir jetzt beleuchten, in denen mittels staatlichem Zwang gesellschaftliche Gewalt ausgeübt wird und die ganz eng miteinander verwoben sind: Zwangsarbeit und Zwangspsychiatrie.

Typischerweise haben Sozialisten auf Zwangsarbeit als wesentliches Mittel ihres Repertoires nie verzichtet: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, lautet deren Moral, die zwar vordergründig gegen die Ausbeuter gerichtet sein soll, aber dem selbstverständlich vor allem massenhaft alle anderen Arbeitsverweigerer zum Opfer fallen. Mit dem Spruch, es gäbe kein Recht auf Faulheit, hat Schröder die Hartz IV Hetze gegen die eröffnet, die sich seinem Lohndrückerprogramm des angebl. Förderns, tatsächlich aber Forderns, widersetzen. Am Rande sei vermerkt, dass zynischerweise die Genötigten nun auch noch offiziell als "Kunden" der Arbeitsagentur verhöhnt werden.

Aber was setzen sozialistische Etatisten dagegen? Eine Forderung nach Mindestlohn anstatt nach einer bedingungslosen Grundsicherung, bzw. das Recht auf Faulheit durch die Abschaffung der gesetzlichen Sanktionsmöglichkeiten, um die Verweigerung die Arbeitsbereitschaft endlich straffrei zu stellen.

Zusätzlich soll bei den Sozialisten der Staat als Auftragsgeber für Arbeit als unproduktive Beschäftigungstherapie fungieren, also müssen Menschen arbeiten und via Steuern Geld dafür bezahlen, nur das andere Menschen Produkte erarbeiten, die niemand braucht und niemand will. Es handelt sich um die Ideologie des Arbeitens, des " gebraucht Werdens" in Bereichen, wo die Produktivität schon längst das Reich der Freiheit zulässt.

Ganz parallel zu Zwangsarbeit und dem Arbeitszwang wollen Sozialdemokraten, wie sozialistische Etatisten, und die Konservativen sowieso, die Zwangspsychiatrie erhalten. Sie alle unterstützen die Zwangspsychiatrie, den staatlichen Zwang als gesellschaftlich erwünschte Gewalt, um mit Freiheitsberaubung und Körperverletzung, die Folter, Entmündigung und Entwürdigung im Psychiatrischen Gulag als willkürliches Unterdrückungsinstrument nutzen zu können. Das Ende dieser menschenrechtlichen Verbrechen, bei denen aufgrund einer medizinische Verurteilung, Menschen zu Untermenschen erklärt werden, hat bisher auch keine Partei der Linken zum Programm gemacht. Ganz im Gegenteil: Durch die Heiligsprechung und Verklärung der Psychiatrie als angebl. "wissenschaftlich" und ein entsprechend vulgärmaterialistisches Weltbild von Geisteswissenschaft als Gehirn- und biologische Selektionswissenschaft, waren einerseits sowohl sowjetische wie postsowjetische Psychiatrien verschärfte Straflager. Andererseits gab es auch ein sozialdemokratische Eugenik mit der Forderung nach Zwangssterilisation. Deren führender Vertreter, Alfred Grotjahn, war von 1921 - 1924 Reichstagsabgeordneter der SPD und Inhaber des Lehrstuhls für Sozialhygiene an der Universität Berlin. Er benannte 1925 zustimmend den Personenkreis, der bald von der ,Ausmerzung' betroffen sein wird, Zitat: "...das Heer der Landstreicher, Alkoholiker, Verbrecher und Prostituierten, der Bodensatz der Bevölkerung, den der Volkswirt als Lumpenproletariat bezeichnet, Epileptiker, Geisteskranke und Geistesschwache, Sonderlinge und Krüppel..." (Grotjahn zitiert nach Klee 1983: 30). Wie die eugenischen Phantasien weitergewirkt haben, ist daran zu sehen, dass erst 1999 die 1980 gegründete Samenbank von angeblichen "Genies" endgültig geschlossen wurde, wie im Spiegel der letzten Woche berichtet wurde.

 

Als Beispiel der realsozialistischen Zwangspsychiatrie und deren Fortsetzung nach der Wende sei auf den Film von Ernst Klee "die Hölle von Ückermünde" hingewiesen. In dieser Sendung möchte ich aus dem Buch "Das weiße Land der Seele" von Olga Kharitidi zitieren. Olga Kharitidi ist eine russische Psychiaterin und damit eine Zeugin von der Täterseite, die das System Anfang der 90er Jahre verlassen hat. Der Ausschnitt aus ihrem autobiographischen Buch zeigt beispielhaft, wie alle Psychiatrie durch Kolonialisierung auf die Vernichtung des Subjekts zielt:

Viktor Isotow war gerade erst zwanzig Jahre alt, als er aus einer Spezialklinik in unser Krankenhaus überweisen wurde. Solche Kliniken hatte es jahrzehntelang überall in der Sowjetunion gegeben. Sie widmeten sich der Behandlung krimineller Patienten, vor allem solcher, die als gefährlich eingestuft wurden. Wir wußten nicht viel über diese Anstalten, denn sie waren dem Innenministerium unterstellt, nicht dem Gesundheitsministerium.

Eines der schlimmsten Verbrechen in der Sowjetunion wurde in Paragraph 70 des sowjetischen Gesetzbuches definiert. In diesem Paragraphen ging es um antisowjetische Agitation und Propaganda. Die Verurteilung nach Paragraph 70 war für die meisten Betroffenen praktisch gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Der einzige Unterschied bestand darin, da sie nicht hingerichtet wurden, sondern statt dessen den Schrecken der "Sonderbehandlung" ausgeliefert waren. Viele der Verurteilen waren auf immer für die Welt verloren, und von denen, die zurückkehrten, blieben die meisten ihr Leben lang seelische Krüppel.

Viktor Isotow war als einem seltenen Ausnahmefall die Chance gegeben worden, in die Gesellschaft zurückzukehren. Nach zwei Jahren seelischen Horrors in einer Spezialklinik in Kasachstan hatte man ihn nach Hause geschickt und zur Weiterbehandlung in unsere Klinik eingewiesen. Er kam mit dem Etikett "schleichende Schizophrenie" auf meine Station, einer Diagnose, die alles und nichts besagte und bei jedem so lauten konnte, der die Kriterien gesellschaftlicher Normalität, die die Regierung aufgestellt hatte, nicht erfüllte.

Wer mit dieser Diagnose behaftet war, hatte, auch wenn er in Wirklichkeit geistig völlig gesund war, unter den schrecklichen Folgen zu leiden, die auch jede diagnostizierte Schizophrenie nach sich zog. Fast alles, was den Betroffenen im Leben lieb und wert war, wurde ihnen geraubt. Sie verloren ihre Arbeitsstelle und ihre Freunde. Sie durften wieder zur Schule gehen noch in sozialen Organisationen mitwirken.

Das wichtigste Syndrom in Viktors Krankengeschichte war nach den Aufzeichnungen seines letzten Arztes "metaphysische Intoxikation". In seiner Krankenakte hieß es: "Der Patient zeigt anomales Interesse an Literatur mit philosophischem, religiösem und metaphysischem Charakter. Er behauptet, er könne den ganzen Tag damit verbringen, Bücher zu lesen, ohne irgendwelchen anderen Interessen nachzugehen. Er hat nicht viele Freunde, denn seine Kriterien für Freundschaft sind sehr streng. Seine Redeweise ist abstrus und kompliziert. Er verbreitet antisowjetisches Gedankengut. Er ist der Überzeugung, die sowjetische Gesellschaft sei unvollkommen und könne in vieler Hinsicht verbessert werden."

Viktors Verbrechen – seine Geisteskrankheit – bestand darin, daß er im Alter von siebzehn Jahren entschieden hatte, das Leben in der Sowjetunion sei verbesserungswürdig: Die Menschen hier sollten größere Freiheiten haben. Er hatte einfache, handgeschriebene Flugblätter angefertigt, auf denen er Vorschläge machte, wie diese Veränderungen aussehen könnten. Diese Flugblätter hatte er in seiner kleinen Heimatstadt an ein paar öffentlichen Gebäuden an die Mauern geklebt.

Was dann folgt, war typisch. Die örtliche Abteilung des KGB verhaftete Viktor, man leitete eine psychiatrische Untersuchung in die Wege, die die Diagnose Schizophrenie stellte, diese Diagnose wurde dem Gericht vorgelegt, und das Gericht schickte Viktor in die Spezialklinik.

Ich fragte mich, warum man ihn schließlich doch nach Hause gelassen hatte. Vielleicht hatten sie endlich erkannt, wie lächerlich es gewesen war, ihn überhaupt als Bedrohung für die Gesellschaft zu bezeichnen. Oder aber, sie hatten beschlossen, ihn als geheilt zu betrachten. Als Viktor mein Patient wurde, wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn als gefährlich einzustufen. Er hatte einen schmalen weißen Nacken und blickte immer demütig zu Boden. Seine Stimme war leise, und er legte Symptome einer tiefen Depression an den Tag.

Viktor war der erste Patient, den ich aus einer Spezialklinik übernommen hatte. Ich mußte feststellen, daß er vor allem und jedem Angst hatte. Er war sehr kooperativ und beantwortete gehorsam alle meine Fragen. Das Problem war, daß er seine Antworten alle gewissenhaft auswendig gelernt und eingeübt hatte. Es waren immer kurz, förmliche Sätze, die er ohne Abwandlung wiederholte: "Ich war krank. Das ich jetzt ein. Ich möchte meine Medikamente weiter nehmen, um der Krankheit vorzubeugen."

...

Viktor glaubte nun nicht mehr, daß die Gesellschaft Veränderungen nötig hatte, wahrscheinlich, weil er den Gedanken, daß Veränderungen überhaupt möglich waren, aufgegeben hatte. Ich hörte niemals eine Äußerung von ihm, die als antisowjetisches Gedankengut hätte interpretiert werden können. Man hatte ihn darauf konditioniert, solche Themen zu vermeiden. Aber nach und nach entwickelte er eine nebelhafte Vision seiner Zukunft.

Er begriff, daß er außerordentliches Glück gehabt hatte, aus der Spezialklinik entlassen worden zu sein. Ihm bot sich jetzt die Chance, in seiner Heimatstadt den eigenen Lebensunterhalt mit einer einfachen Arbeit zu verdienen und zu seinen geliebten Büchern zurückzukehren. Viktor wurde klar, daß er seine früheren Hoffnungen auf ein Studium für immer begraben mußte, und ich versuchte nie, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Die Universitäten würden ihm für immer verschlossen bleiben. Diese Erkenntnis hatte traumatische Folgen für ihn, denn er war intelligent und neugierig. Auch nach den beiden Jahren, in denen er den destruktiven Behandlungsmethoden der Spezialklinik ausgesetzt war, war er immer noch von einem leidenschaftlichen Wissensdurst erfüllt.

...

Nach seiner Freilassung hatte Viktor mir einen kurzen Brief geschrieben, in dem er von seinen Versuchen berichtete, eine Arbeit zu finden. Die wenigen Betriebe, bei denen er sich vorgestellt hatte, hatten ihn abgewiesen, aber er gab die Hoffnung nicht auf. Außerdem erwähnte er, daß seine Mutter während seiner Abwesenheit alle seine Bücher verkauft hatte.

...

Jetzt hatte Viktor sich das Leben genommen, und mir war, als sei ein Teil meiner selbst mit ihm gestorben. ... Ich konnte es nicht mehr rechtfertigen, ein sogenannten "normales" Leben als erfolgreiche Psychiaterin an einer staatlichen Klinik zu führen. Wenn ich, worauf ich in meinem bisherigen Leben immer stolz gewesen war, meinen inneren Überzeugungen treu bleiben wollte, blieb mir gar keine Wahl.


Gesendet am 08.09.2005 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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