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Sendung vom 16.12.2004
Ambulante Zwangsbehandlung in Bremen

Spätestens ab dem nächsten Frühjahr soll es in Bremen möglich sein, per Gerichtsbeschluss zur Einnahme von psychiatrischen Drogen gezwungen zu werden. Bisher ist eine Zwangsbehandlung nur im Rahmen einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik zulässig. Weigert sich in Zukunft der Betroffene, sich in einem psychiatrischen Behandlungszentrum seine Depot-Spritze abzuholen, dann kann er durch die Polizei aus seiner Wohnung geholt und mit Gewalt der Behandlung zugeführt werden.

Ursprünglich wurde die Notwendigkeit zur Änderung des "Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten" - kurz: PsychKG - noch mit dem Mythos vom gefährlichen "Geisteskranken" begründet, vor dem die Allgemeinheit geschützt werden müsse.

Mittlerweile wird immer offensichtlicher, dass damit nur Stimmung für ein anderes und schon lange geplantes Projekt gemacht werden sollte: die "integrierte Versorgung" angeblich "psychisch kranker" Menschen und die Durchsetzung des unbedingten psychiatrischen "Willens zur Heilung".

Prof. Kruckenberg, jahrelang Chefarzt der grössten psychiatrischen Klinik in Bremen, bestätigt im Interview, was die Kenner der "Szene" schon lange Wissen: Zwangseinweisungen werden seit Jahrzehnten regelmässig unter Missachtung geltenden Rechts vorgenommen. Diese Praxis soll nun Gesetz werden. Bremen ist dabei nur das Pilotprojekt für die bundesweite Einführung der ambulanten Zwangsbehandlung.

Doch es regt sich Widerstand, vor allem aus den Reihen der Psychiatrie-Erfahrenen. Wir sprechen in dieser Sendung mit Ronald Kaesler, Mitorganisator der Bremer Proteste, und es gibt O-Töne von der Demonstration vor der Bremer Landesvertretung in Berlin.

Aktuelle Informationen zu dem Gesetzesvorhaben gibt es im Internet unter www.psychiatrie-erfahrene.de

01 Intro 01:00 Audio
02 (Musik) Bob Marley - Get Up Stand Up 00:20
03 Ambulante Zwangsbehandlung in Bremen 08:29 Audio Text
04 (Musik) Irrenoffensive - Everybody's Darling 01:20 Audio
05 Interview mit Prof. Peter Kruckenberg 16:03 Audio Text
06 (Musik) Peter Tosh - Get Up Stand Up 03:22
07 Break 00:18 Audio
08 Die Proteste in Bremen und Berlin 11:14 Audio
09 Linton Kwesi Johnson - Sonny's Letta 01:27
10 Outro 01:22 Audio
Intro
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Ambulante Zwangsbehandlung in Bremen
Text: Jan Groth
Länge 08:29
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In Bremen soll bis zum nächsten Frühjahr die gesetzliche Grundlage für eine ambulante Zwangsbehandlung angeblich "psychisch kranker" Menschen geschaffen werden. Bisher können die Betroffenen nur dann gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt werden, wenn sie auf Beschluss eines Richters stationär in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind. Kriterium für den Richter ist in diesen Fällen, dass mit der Unterbringung eine akute Gefährdung Dritter oder eine Selbstgefährdung unterbunden werden kann.

Die wesentliche Änderung des so genannten "Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten" - kurz: PsychKG - ist eine neue Definition des Begriffes "Unterbringung". Unterbringung umfasst demnach zukünftig nicht nur den Aufenthalt in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung sondern auch die durch einen Richter angeordnete ambulante Behandlung mit psychiatrischen Drogen.

Die Befürworter der neuen Regelung argumentieren damit, dass eine ambulante Zwangsbehandlung das mildere Mittel gegenüber einer Internierung in einer psychiatrischen Einrichtung sei, weil sie dem Betroffenen - so der Gesetzesentwurf - eine weitgehend selbst bestimmte Lebensführung ermögliche.

Mit dieser Begründung wurde in der Vergangenheit immer wieder versucht, die Durchführung einer ambulanten Zwangsbehandlungen juristisch durchzusetzen. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 2000 betont dagegen, dass die ambulante Zwangsbehandlung nicht die mildere Form der Unterbringung, sondern etwas in seiner Art völlig verschiedenes ist:

Der Eingriff durch die zwangsweise ambulante Behandlung für den Betroffenen ist ein anderer als der durch eine einmalige - selbst länger dauernde - Unterbringung verursachte und mit dieser nicht vergleichbar. Der Betroffene lässt sich nur mit Zwang, unter Einschaltung der Polizei oder durch entsprechende Drohung, in das Psychiatrische Krankenhaus bringen, auch wenn er die Behandlung dort ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt. Diese Art der Vorführung hat nach außen hin diskriminierende Wirkung.

Trotz dieser eindeutigen Stellungnahme einer höchstrichterlichen Instanz wurde zuletzt im Dezember 2003 im Rahmen der Änderung des Betreuungsrechts versucht, der ambulanten Zwangsbehandlung eine rechtliche Grundlage zu verschaffen. Der daraufhin einsetzende Protest, vor allem aus den Reihen der Betroffenen, konnte jedoch erreichen, dass bereits im März diesen Jahres die Bundesregierung und alle Fraktionen des Bundestages den entsprechenden Passus des Gesetzesentwurfes wegen seiner Verfassungswidrigkeit ablehnten. Ausschlaggebend war dabei auch ein Gutachten des Ettlinger Rechtsanwalts Thomas Saschenbrecker, der, wie der Bundesgerichtshof, den milderen Charakter einer ambulant durchgeführten Zwangsbehandlung verneint:

Für einen Betreuten kann sich die Gewissheit, für die Dauer eines Jahres regelmäßig der Behandlung zugeführt zu werden, als eine andere, subjektiv möglicherweise stärkere Belastung als eine zeitnah angeordnete Unterbringung, selbst wenn diese mit der gleichen Behandlung verbunden ist, darstellen.

Da es sich bei einer gerichtlichen Unterbringung um einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Person handelt, sind dieser Maßnahme durch das Gesetz sehr enge Grenzen gesetzt. Ein solcher Eingriff ist demnach nur dann gerechtfertigt, wenn die Person bereits einen Schaden verursacht hat oder dies (Zitat aus dem PsychKG) "unmittelbar oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht."

Die Befürworter des Gesetzesentwurfes behaupten nun, dass sich diese Definition von Gefährlichkeit in der Praxis als unzureichend erwiesen habe und deshalb der Gefahrenbegriff korrigiert werden müsse. Eine Unterbringung soll künftig schon dann möglich sein, wenn "ein schadenstiftendes Ereignis zwar unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten" sei.

Mit dieser dehnbaren Formulierung wird die Gefährlichkeit einer Person zu einer Angelegenheit der mehr oder weniger willkürlichen Interpretation von Psychiatern, Polizisten und Richtern, denn wer kann schon wirklich sagen, was in Zukunft alles geschehen kann. Was hier eingeführt werden soll, ist eine so genannte "vorausschauende Gefahrenabwehr" und damit letztlich das, was die Verfassung verbietet, nämlich dass ein Bürger zum bloßen Objekt staatlichen Handelns oder einer umfassenden staatlichen Gesundheitsvormundschaft wird.

Dass es sich dabei nicht um grundlose Vermutungen handelt, offenbart sich bei der Lektüre der Begründung zum Gesetzesentwurf. Dort heißt es:

Durch das Absenken der Eingriffsschwelle können Unterbringungsmaßnahmen früher als bisher angeordnet werden, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist. Zudem müssen Behandlungsmaßnahmen im Rahmen einer Unterbringung [...] nicht vorzeitig abgebrochen werden, weil infolge der medikamentösen Behandlung keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung durch die psychisch kranke Person mehr vorliegt, wenn bei einer Beendigung der Behandlung zu erwarten ist, dass eine Gefahrensituation jederzeit erneut eintreten kann. Die Neuregelung ermöglicht somit eine zeitliche Ausdehnung der ambulanten Behandlungsmaßnahmen über das bisher zulässige Maß hinaus.

Dass das Argument der Gefahrenabwehr nur ein kalkulierter Versuch ist, öffentliche Zustimmung für etwas ganz anderes zu erhalten, beweist das Engagement der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger psychiatrischer Krankenhäuser. Deren Vorsitzender, Rainer Kukla, bringt es im Weser-Kurier vom 4. Dezember 2004 auf den Punkt: es geht um die so genannte "integrierte Versorgung" psychisch Kranker. Statt immer wieder Zwangseinweisungen vornehmen zu müssen, wolle man durch eine Art Fallmanagement den Patienten bei allen - wie es heißt - "Behandlungsschritten" begleiten - unabhängig, ob diese Behandlung von dem Betroffenen gewünscht ist oder nicht -, und damit unnötige Rückfälle vermeiden und Kosten sparen.

Dem Wunsch nach vollständiger Kontrolle und Überwachung kommt auch die vorgesehene Erweiterung der Datenübermittlungsbefugnisse des Sozialpsychiatrischen Dienstes und der mit ihm verbundenen psychiatrischen Einrichtungen entgegen. So sollen Personen zukünftig schon dann den Behörden gemeldet werden können, wenn sie z.B. die "Ehre" einer anderen Person gefährden oder gefährden könnten. Bisher ist dies nur möglich, wenn Gefährdungen durch den Umgang mit Waffen oder das Führen von Kraftfahrzeugen zu befürchten sind.

Die drohenden Verschärfungen für Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig mit der Psychiatrie in Kontakt gekommen sind, sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die heute gängige Praxis der Zwangseinweisung nach PsychKG die angebliche Gefährlichkeit eines Menschen zum Vorwand nimmt, um eine psychiatrische Behandlung auch gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen durchzusetzen.

Denn, wenn Personen, die heute durch Richterbeschluss in der "Geschlossenen" untergebracht sind, weil sie angeblich "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" eine akute Gefahr für sich und andere darstellen, dann dürften sie gar nicht in die Freiheit entlassen werden, denn sie könnten ja jeden Moment den befürchteten Schaden anrichten, z.B. ihr Wohnhaus anstecken oder sich das Leben nehmen.

Sollte eine ambulante Zwangsbehandlung dies verhindern, dann müsste der Betroffene durch den massiven Einsatz psychiatrischer Drogen soweit handlungsunfähig gemacht werden, dass sein Zustand einem Koma nahe kommen müsste und damit von der behaupteten "weitgehend selbst bestimmten Lebensführung" keine Rede mehr sein könnte.

Oder - und das ist wahrscheinlicher - die Befürworter der Gesetzesänderung sind sich längst bewusst, dass Menschen, die heutzutage gerichtlich untergebracht sind und die sich zukünftig zwar zwangsweise behandeln lassen müssten, dabei jedoch in Freiheit leben könnten, gar nicht so gefährlich sind, dass der Eingriff in ihre Grundrechte gerechtfertigt werden kann.

Der Zweck des Gesetzes wäre dann offensichtlich: Dauerhafte und kostengünstige staatliche psychiatrische Kontrolle und Dauerbehandlung von Menschen, die auffällig sind und stören - und dabei den Anschein wahren, man lebe in einer Demokratie und nicht in einem Polizeistaat.

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(Musik) Irrenoffensive - Everybody's Darling
Länge 01:20
Homepage der Band: www.irrenoffensive.com
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Interview mit Prof. Peter Kruckenberg
Einleitung und Fragen: René Talbot
Länge 16:03
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"Richter und Psychiater haben sich seit 1979 bei Zwangseinweisungen nicht an das Gesetz gehalten."

Vor der Sendung haben wir ein Interview mit Prof. Peter Kruckenberg aufgezeichnet. Prof. Kruckenberg ist jetzt zwar im Ruhestand, kennt sich aber mit den Bremer Psychiatrie Verhältnissen bestens aus. Er war Chefarzt des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost, die früher "Ellener Feld" genannte zentrale Psychiatrie Bremens. Er war darüberhinaus einflußreicher Berater der SPD und gilt als einer der führenden Köpfe der Sozialpsychiatrie in Deutschland.

Prof. Kruckenberg ist der prominente Kronzeuge für die Feststellung des folgenden Tatbestandes:

Durch die jetzt beabsichtigten Änderungen fällt Licht auf die bisherige psychiatrische Praxis in Bremen. Angeblich "psychisch Kranke" waren durch die Gefahrenabwehr-Definition des PsychKG bis 1979 einer Sonderentrechtungsregelung ausgeliefert. Die Grundrechte galten einfach nicht für sie.

1979 wurde in Bremen die Gefahrenabwehr-Definition auf die des allgemeinen Polizeirechts hochgefahren, also die Regelung, die für alle Bürger Bremens gilt. Daran hielten sich aber weder Psychiater noch Richter. In einer mafiösen Koalition brachen sie systematisch das geltende Recht mit den angeblich "psychisch Kranken" als Opfer. Diese wurden weiter mit Körperverletzung und Freiheitsberaubung einer Heilungsdiktatur unterworfen.

Nachdem der Bundesgerichtshof dieser Praxis 2003 mit einem Urteil Einhalt im Rahmen des Betreuungsrecht gebot und die ambulante Zwangsbehandlung ins Gespräch kam, insbesondere ihre Unvereinbarkeit mit der Verfassung von allen Parteien im Bundestag anerkannt wurde, soll jetzt in Bremen wieder auf die Sonderentrechtungsregelung von 1979 zurückgegriffen werden, um nahezu nach Belieben zwangsbehandeln zu können.

Das wird zwar rhetorisch bestritten, aber wenn nicht ausschliesslich nach allgemeinen Polizeigesetzen festgehalten werden kann, dann wird das Recht gebeugt, die Moral gespalten und jede Willkürbehandlung möglich.

Der Rückgriff auf das Sonderrecht des PsychKG von vor 1979 ist der Versuch, die rechtswidrige Praxis der Zwangseinweisungen der letzten 25 Jahre als Gesetz festzuschreiben.

Dass dieser Schritt schon lange geplant war und dafür nur als Propagandalüge zwei tragische Morde als Vorwand genutzt werden, ist nur das i-Tüpfelchen.


Talbot: Sehr geehrter Herr Professor Kruckenberg, ich freue mich sehr, dass Sie sich so kurzfristig zum Interview bereit gefunden haben. Vielleicht können Sie erst einmal selbst, aus Ihrer Sicht, die Lage einschätzen, die durch den Gesetzesentwurf vorgelegt wurde.

Kruckenberg: Also ich habe den jetzt nicht vor mir liegen. Ich schätze das relativ vernünftig ein. Es ist auch keine wesentliche Veränderung übrigens gegenüber dem bisherigen Bremer Gesetz. Der Grundgedanke ist, dass jemand, der sonst aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen in der Klinik untergebracht würde, zur Abwendung einer Gefahr im Rahmen des PsychKG, dass der auch stattdessen eine Behandlungsauflage bekommen kann, wenn er bereit ist, sich einer ambulanten Behandlung zu unterziehen und dann ambulant behandelt werden kann.

Aber das wäre jedenfalls ganz verkehrt, dass er abmulant zwangsbehandelt würde. Ich halte überhaupt nichts davon, dass man sozusagen zu jemandem nach Hause geht und ihn gegen seinen Willen behandelt. Es sei denn, man macht das, was schon immer möglich war, überall möglich ist: es liegt eine absolute akute Notsituation vor, wo man handeln muss.

Also aus meiner Sicht hat dieser Gesetzentwurf nichts mit dem zu tun, den man vorher im Rahmen des Betreuungsgesetzes hatte, wo sozusagen ein Arzt mit Zustimmung des Gerichts nach Hause fahren konnte und mit Zwangsmassnahmen jemanden zu Hause behandeln kann. Das würde ich für ganz verkehrt halten.

Nun, ich denke, auch nach Betreuungsrecht wäre es die freie Option gewesen, ob die Polizei den abholt und zu einem Behandlungszentrum hinbringt ...

Aber allein die Option ist nicht richtig. Ich halte überhaupt nichts davon, jemanden in seiner Wohnung zwangszubehandeln. Zwangsbehandlung ist das allerletzte Mittel, was aus meiner Sicht leider viel zu häufig ist. Und zwar aufgrund dessen, dass wir zu wenig Möglichkeiten haben, gut und intensiv zu behandeln im ambulanten Bereich, und zwar intensiv ohne Zwang, freiwillig zu behandeln. Und Zwangsbehandlung ist immer ein schwieriges Problem für die Patienten wie für die Mitarbeiter und Ärzte. Man muss alles tun, um Zwangsbehandlung generell so selten wie möglich auszuüben. Es schafft auch ein ungutes Machtverhältnis. Und Machtverhältnisse sind immer in Gefahr, missbraucht zu werden.

Aber es bleibt ja der Fakt, dass Leute entlassen werden können sollen und dann mit der Auflage, dass sie sich entweder melden oder natürlich abgeholt werden zum Spritzen.

Was sein kann, das ist, dass sie eine Auflage bekommen und wenn sie die Auflage nicht einhalten, abgeholt werden können. Das ist immer noch besser als jemanden die ganze Zeit in der Klinik zu behalten und ihn auf die gleiche Weise zu behandeln. Es wird ja nicht schlimmer, sondern ...

Es bleibt der Fakt, dass sie zu Hause von der Polizei abgeholt werden.

Ja, na sicher. Das bleibt es. Sonst wäre es so, dass sie die ganze Zeit in der Klinik bleiben müssten.

Da kommen wir, glaube ich, zum Kern des Problems. Denn das PsychKG verlangt ja für eine Grundrechtsverletzung - eine relativ dramatische, es geht um Freiheitsberaubung und Körperverletzung - hohe Schranken. Und der Punkt sei ja unterstellt, dass diese Person unmittelbar dabei ist, eine schwere Straftat zu begehen. Wie kann die denn entlassen werden, wenn sie dabei ist, eine schwere Straftat zu begehen, denn dann hat sie genau die Freiheit, diese Tat auch zu begehen. Oder, das ist doch dann die Frage, es geht doch nur um Zwangsbehandlung, um das "Recht auf Krankheit" einzuschränken und die Person, weil man sie heilen will, mit Zwang zu behandeln.

Ja, das Problem sieht so aus: Es gibt eine kleine Zahl von Patienten, in Bremen waren das, ich schätze mal zwischen acht und zwölf, vor dem Urteil des Bundesgerichtshofes, das im Rahmen des Betreuungsrechts Zwangsbehandlung untersagt hat. Die werden häufig wiederholt kurzfristig, wenn sie keine medikamentöse Behandlung bekommen, auf eine für sich oder für andere gefährliche Weise krank. Es ist eine kleine Zahl und bei denen ist es wichtig, um eine Forensik zu vermeiden oder um eine erhebliche Selbstgefährdung zu vermeiden, eine stabile Behandlung über einen gewissen Zeitraum zu erreichen. Um diese kleine Zahl geht es. Die würde man sonst, weil eine ausreichende Stabilität noch nicht erreicht ist, sehr lange in der Klinik behandeln oder würde sie mit einem hohen Risiko entlassen.

Das ist dann jedes Mal ein sehr komplexes Einzelfallproblem, was natürlich juristisch zu überprüfen ist und wo man darauf achten muss, dass die Schwelle der Anordnung sehr hoch bleibt.

Aber genau an dem Punkt greift der Entwurf ja auch ein. Er will die Schwelle der Gefährlichkeit oder der Gefahrenabwehr auf eine "vorausschauende Gefahrenabwehr", die sogar, das ist das Extrem, was wir darin gefunden haben, bei Ehrverletzung, bei drohender Ehrverletzung soll ...

"Ehrverletzung" ist Quatsch. Nein, das PsychKG im Sinne von Unterbringung, mit oder ohne eine solche Auflage, kann nur wirksam werden, wenn jemand für sich oder andere eine erhebliche Gefahr bedeutet. Und in diesem Zusammenhang ist im seltenen Fall, so selten wie möglich, aber auch eine Hilfe erforderlich. Und dies abzuschätzen, kann man nie grundsätzlich machen, sondern das kann man nur im Einzelfall machen. Und man muss den Einzelfall sehr hoch hängen.

Wir haben allerdings im Augenblick ein gesellschaftliches Problem. In Bremen macht sich das aufgrund der Medienberichterstattung sehr stark bemerkbar. Wir haben ein gesellschaftliches Problem, dass bei Straftaten psychisch Kranker ein ganz erheblicher Druck und eine erhebliche Vorwurfshaltung gegenüber den Behandlern, den Vorbehandlern, ausgeübt wird. Das heisst, wenn jemand z.B. im Krankenhaus oder beim Sozialpsychiatrischen Dienst war und dann eine Zeit später eine Straftat begeht, im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, dann kommt ein ganz erheblicher Druck auf die Behandler zu. Das ist absolut ungünstig, weil es tendenziell dazu verführt, in der Balance zwischen Wahrung der individuellen Grundrechte und Schutz vor Gefährdung, zu weit auf das letztere zu gehen und zu viel einzuweisen. Sowohl bei den Psychiatern, wie bei Polizei und Gericht. Das sehen wir übrigens auch in der Forensik. Und das ist ein sehr heikles Problem. Und da muss man sehr entschieden gegenhalten.

Ich selber war in letzter Zeit an der Auseinandersetzung öffentlich in dieser Richtung mehrfach beteiligt und habe gesagt, wenn sich eine solche Tendenz einbürgert, wird das Vertrauensverhältnis zwischen der Psychiatrie und betroffenen Klienten noch einmal zusätzlich gestört und das macht eher eine erhöhte Gefährdung.

Also das Ziel muss sein, mit allen Mitteln, in der Regel mit einer guten vernünftigen begleitenden Behandlung auch in der Krise, immer freiwillig zu arbeiten.

Das ist ja nicht das Problem. Freiwillig ist ja alles möglich.
Ich möchte doch noch einmal auf das zurückkommen, was sie ja eben vehement bezweifelt haben. Ich kann das kurz zitieren: "Zum anderen wird der Kreis der geschützten Rechtsgüter ausgedehnt." Und: "In Betracht kommen zum Beispiel Rechtsgüter wie die "Freiheit, die Ehre, das Eigentum oder nicht unwesentliche Vermögenswerte."

Das steht in der Begründung?

Ja, das steht in der Begründung.

Also, da werde ich noch einmal nachhaken. "Die Ehre" ist ja völliger Quatsch.

Es steht drin ...

Naja, gut. Das darf nicht in der Begründung stehen. Das kann nur missverstanden sein. Das ist Quatsch.

Die Schwelle soll auf den Gefährdungsbegriff von 1979 heruntergesenkt werden. '79 scheint sie ...

Nein, die Schwelle war unsinnig. Die Schwelle war total unsinnig hoch. Da habe ich schon damals bei dem vorhergehenden Gesetz, mehrfach gesagt, mit dieser Schwelle kann niemand eingewiesen werden. Da hatte man das Polizeirecht übernommen und da stand drin, eine selbstgefährdende oder fremdgefährdende Tat bzw. eine Gefährdung muss "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" bevorstehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann aber niemand eine Tat vorhersehen.

Aber Herr Kruckenberg. Dann verstehe ich eins wirklich nicht. Wenn Sie sagen, da kann praktisch keiner eingewiesen werden, wieso dann nach '79 so viele eingewiesen werden konnten.

Weil sich weder die Richter, noch die Psychiatrie an diese Bestimmung gehalten hat, sondern gesagt hat, es kommt jeweils im Einzelfall auf eine angemessene Gewichtung der Rechtsgüter an. Wenn es eine relativ geringere Wahrscheinlichkeit gibt, aber einen ganz hohen gefährlichen Tatbestand, wenn jemand jemanden umbringen will, dann genügt eine geringere Gefährdung zur Einweisung. Wenn jemand z.B. nur die Strassenbahn zertöppern will, dann muss eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit da sein. Das heisst, es kommt auf die Kombination von Wahrscheinlichkeit einer Tat und Ausmass der Gefährdung an.

Und das war vorher nicht im Gesetz. Und jetzt hat man die alte Formulierung, die vor '79 bestand, genommen. Und diese letztere von '79 ist nur reingekommen, weil die Juristen dasselbe reinschreiben wollten, was im Polizeigesetz steht. Also, das ist der Hintergrund.

Um vielleicht noch einmal auf diesen Public-Relation-Hintergrund zu kommen. Sie kennen ja sicherlich die Hintergründe der zwei sehr prominenten Fälle ...

Ja. Ich bin ja selber in die Medienauseinandersetzung stark eingeschaltet gewesen.

Würde nach ihrer Einschätzung eine dieser beiden Taten tatsächlich verhindert worden sein, wenn diese neue Gesetz damals schon gewirkt hätte?

Das glaube ich nicht, weil bei dem ersten Fall es um ein Kommunikationsproblem zwischen Polizei, Gericht, Betreuung und der Behandlung gegeben hat. Das heisst, der Sozialpsychiatrische Dienst ist nicht informiert worden, darüber, dass die betreffende Frau sich sehr gefährdend verhalten hat. Das wussten sie nicht. Das wusste nur die andere Seite. Dann hätte man es mit einiger Wahrscheinlichkeit verhindern können. Aber die gesetzlichen Voraussetzungen waren vorher schon gegeben.

Bei dem zweiten Fall war das ein sehr tragischer Fall. Der Mensch ist recht gut und kontinuierlich behandelt und begleitet worden. Aber das hat keiner vorausgesehen, um es mal so zu sagen. Die beiden Fälle wären durch eine Änderung des Gesetzes nicht betroffen gewesen.

Also, ich vermute, dass dieses Gesetz für Patienten eher weniger Zwang bedeutet, nach der Gesamteinschätzung. Nämlich, weil man sie früher entlassen kann, auch diejenigen, bei denen man, wenn die noch nicht ausreichend stabilisiert sind, so dass man sagen kann, das reicht jetzt so aus, wir wissen zwar nicht genau, ob sie die Medikamente jetzt nehmen, aber sie sind einigermassen stabil und für sich selber verantwortlich.

Aber Herr Kruckenberg. Dann können die doch diese gefährlichen Taten, wegen denen bzw. wegen der Gefahr, sie zu begehen, sie dort eingesperrt sind, die können sie doch dann begehen. Das ist doch eine absurde Begründung.

Nein, das ist nicht eine absurde Begründung, sondern diese Erkrankungen, die treten ja nicht auf von einer Sekunde auf die nächste, sondern das ist im Regelfall, gerade wenn sie eine Depotmedikation haben, eine langsame Entwicklung, die über Tage und manchmal Wochen verläuft. Und wenn man dies gut beobachtet, dann kann man in diesem Zusammenhang schon gefährliche Rückfälle vermeiden - und den Patienten früher entlassen.

Eine Frage noch: Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten von dem Gesetz ein. Gerade jetzt war ja der Protest von einer ganz erheblichen Anzahl von Psychiatrie-Erfahrenen, die damit die Frage, ob das ein milderes Mittel ist, eigentlich klar konterkariert haben. Die Betroffenen sagen ja selber "Nein" ...

Da gibt es immer unterschiedliche Auffassungen ... Ich bin ziemlich sicher, dass das Gesetz, möglicherweise in einer leicht veränderten, Form verabschiedet wird.

Ganz herzlichen Dank, dass sie sich kurzfristig die Zeit genommen haben.

Gut, dass Sie mich noch einmal darauf hingewiesen haben. Der Sache mit der "Ehre" werde ich noch nachgehen ...

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Die Proteste in Bremen und Berlin
Länge 11:14
Das Interview mit Ronald Kaesler hat René Talbot geführt. Die O-Töne von der Berliner Demonstration wurden von Uwe Pankow aufgenommen.
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